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Der nationalphilologische Literaturbegriff und die gespaltenen europäischen Identitäten

Trotz der grundlegenden Umstrukturierung des europäischen politischen, ideologischen und kulturellen Raums infolge der Globalisierung der heutigen Welt, werden Sprache, Literatur und Kultur im gegenwärtigen europäischen akademischen Betrieb weiterhin in einem überwiegend nationalphilologischen Rahmen unterrichtet und erforscht. Da das Zustandekommen der modernen Philologie mit jenem der modernen Nationalstaaten zusammenhing, schneidet die laufende Auflösung der Nationalstaaten im gesamteuropäischen Raum dennoch unvermeidlich die Frage an, ob der philologische Rahmen für die entstandene national hybride Situation der europäischen Sprachen, Literaturen und Kulturen immer noch angemessen sei und ob er nicht durch einen anderen Rahmen ersetzt werden sollte. Schon der Aufstieg von Cultural und Postcolonial Studies in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat das philologische Konzept der Literatur ernsthaft in Frage gestellt, indem der Geschichte der Nationalliteratur ihre selbsternannte Rolle als Gesandte des Volksgeistes aberkannt wurde. Innerhalb des Rahmens der Nationalphilologie, die angeblich durch die ‚Nation’ selbst autorisiert wurde, wurden die ethnisch, kulturell, sozial und/oder linguistisch marginalen Gruppen der jeweiligen Nationen stark unter Bildungsdruck gesetzt. Sie sollten ihr angenommen eigennütziges Gruppeninteresse aufgeben, um die Literatur als höchste Äußerung des Volksgeistes zu akzeptieren. Doch anstatt sich der individuellen und einfühlsamen Lektüre von kanonischen literarischen Texten zu widmen, wie das von Philologen vorgesehen wurde, haben diese Gruppen fortgesetzt, die Literatur auf einer traditionellen alltäglichen Art und Weise zu praktizieren, die eher an die Affirmation ihrer kollektiven Identitäten als an die Nationsbildung orientiert war. Sie haben die Nation als fremde und ein wenig gespenstige Substanz erfahren, die ihnen von einer rassisch, ethnisch, sozial, linguistisch und/oder kulturell fremden Elite aufgezwungen wurde. Im Hintergrund des proklamierten gemeinsamen und interessenlosen Volksgeistes haben diese Minderheiten verkleidete soziale, politische oder ideologische Interessen der dominanten Gruppen erkannt, mit welchen sie nichts gemeinsamen hatten, oder nichts gemeinsamen haben wollten.

Der Widerstand gegen die Idee der nationalen Literatur war allerdings nicht auf die Einstellung von diversen Minderheiten beschränkt, die in die europäischen Nationalstaaten als Folge deren kolonialen oder imperialen Vergangenheit eingebunden waren. Die enge Verbindung des philologischen Konzepts der Literatur mit dem Nationalstaat macht dieses Konzept noch fraglicher, wenn aus der Perspektive der „unterentwickelten“ europäischen Gebieten betrachtet,  in welchen die Nationalstaaten aus verschiedensten Gründen mit einer erheblichen Verspätung etabliert wurden. Die Völker aus den ostmitteleuropäischen Gebieten unterlagen z.B. eine lange Zeit den hegemonialen Interessen ihrer westlichen oder östlichen Herrscher. Aus diesem Grund waren sie immer Teil eines fremden Nationalprojekts statt ihres eigenen. Um die staatliche Einheit zu sichern, deren Teil sie gezwungen zu werden waren, waren sie zunächst dazu verpflichtet, gewisse Aspekte ihrer eigenen traditionellen Identität aufzugeben. Jede politische Einigung in diesem Teil Europas verlangte von den Teilnehmern dieser Einigung, ihre innerlich vererbten Verbundenheiten beiseite zu lassen. In diesen Ländern war die Literatur unabdingbar und ununterbrochen in historisch sich verändernde Netzwerke von sozialen, politischen, ideologischen und kulturellen Interessen involviert, weshalb sie an Stelle von dauerhaften literarischen Kunstwerken nur kontextgebundene Umgangstechniken, Geselligkeitsformen, Subjektbildungen wie auch Institutionen schaffen konnte. Sie ging also auf ein aufklärerisches Literaturkonzept zurück, in dem die Literatur nur einen von mehreren Bestandteilen der Kultur ausmachte und keine Ansprüche auf Weltstiftung im Namen des universalen und alles assimilierenden Volksgeistes erhob.

Mit diesem „anachronistischen“ Literaturverständnis, das auf hybriden bzw. ästhetisch nicht emanzipierten Formen der Literatur beharrt, wiederholen die Völker Ost- und Mitteleuropas die Geste von Minderheitengruppen aus den etablierten westeuropäischen Nationalstaaten und stellen somit mit ihnen eine Art der Wahlverwandtschaft her. Beide Entitäten nämlich beruhen auf einer gespaltenen Identität, die vom souveränen Anderen grundlegend abhängig ist, so dass ihr Selbst diesem Anderen nur widerstehen, es aber sich von ihm nicht loslösen kann. Sobald diese Entitäten es versuchten, sich loszulösen, endeten sie in dem Anderen auf einer neuen Ebene verwickelt – wie dies beispielsweise im Falle der nationalen Bewegungen der ostmitteleuropäischen Völker war. Die Letzteren haben nämlich versucht, sich von ihren fremden Herrschern durch dieselbe gnadenlose Technik der Brechung der Widerstände im eigenen Nationalkörper zu trennen, die diese Herrscher zuvor gegen sie selbst eingesetzt haben. Anders gesagt, wie auch immer das Andere gegenüber dem Selbst feindlich vorkommt, haben sich seine Verhaltensweisen während ihres langen Zusammenlebens in das Selbst bereits unmerklich eingeschlichen. Das feindliche Andere ist dem Selbst daher nicht nur extern, sondern immer schon intern d.h. sein beunruhigender Bestandteil. Gerade weil die Völker Ost- und Mitteleuropas zwanghaft versucht haben, den beunruhigenden fremden Körper aus ihrem Selbst zu vertreiben, ist dort die ethnozentrische Xenophobie aufgekommen. Sie war durch stetige Ausbreitung von Feindbildern gekennzeichnet. Die gleiche Schlussfolgerung könnte aber auch für die Minderheitengruppen in den westeuropäischen Nationalstaaten gelten. Um dieser unerträglichen Irritation des Anderen im eigenen Inneren zu widerstehen, haben nämlich beide ein philologisches Konzept des Volksgeistes eingeführt, das auf einer linguistischen, literarischen und kulturellen Selbstgenügsamkeit basiert war, und das die Logik ihrer ehemaligen Herrscher wiederholt. Scheinbar homogen, versprach die Idee des Volksgeistes die Befreiung vom heimsuchenden Anderen aus dem eigenen Inneren. Da die Idee des Volksgeistes an eine „ästhetische Epiphanie“ organisch gebunden und daher zu den gespaltenen Identitäten fundamental unangemessen war, hat sie bei ihrer fehlgeleiteten Applikation verheerende Konsequenzen nach sich gezogen.

Die Idee dieser Konferenz ist es, die Perspektive umzudrehen. Anstatt mit den philologischen Konzepten des Volksgeistes, der Literatur und Sprache an die gespaltenen Identitäten heranzugehen, wäre es wünschenswert, diese gut gegründeten Konzepte im Kontext der globalen Proliferation von gespaltenen Identitäten nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb Europas zu hinterfragen. Wir wollen die folgende Frage stellen: War die Philologie in den westeuropäischen Nationalstaaten tatsächlich gut platziert, da diese Staaten angeblich von jeglichen beunruhigenden „internen Anderen“ und darauf folgenden gewaltsamen Externalisierungen in Form von Feindbildern frei waren? Erfolgte der Prozess der Nationsbildung in Westeuropa in der Tat in einem echten Geist des Kosmopolitismus, der allmählich die „immer-noch-Andere“ in „nicht-mehr-Andere“ transformiert hat, dabei dem konsistenten „sowohl-als-auch“ Programm folgend? Ist der westeuropäische Kosmopolitismus mit seiner wohlwollenden „sowohl-als-auch“ Einstellung geeignete Medizin für engstirnige „entweder-oder“ Logik, die typisch für ost- und mitteleuropäische (oder jenen die in unterschiedlichen infranationalen „Minderheitengruppen“ entworfen wurden) Philologien ist? Oder ist der Kosmopolitismus ganz im Gegenteil nur eine Form des verdeckten oder unsichtbaren Nationalismus, der stillschweigend auf eine höhere und viel einflussreichere Ebene aufgestiegen ist? Ist der ausschließende oder aggressive Nationalismus möglicherweise nur eine notwendige Folge dieses einschließenden und unsichtbaren Nationalismus, wie das neulich von Étienne Balibar vorgeschlagen wurde? Falls ja, innerhalb welchen Rahmens sollte die Literatur heute gelehrt und studiert werden, um sowohl diesen Supranationalismus als auch heftige infranationale und nationale Reaktionen auf ihn zu vermeiden? Die Teilnehmer sind eingeladen, auf diese Fragen einzugehen, entweder mit bestimmten Fallstudien oder allgemeinen theoretischen und methodologischen Äußerungen.

 

Die offiziellen Sprachen der Tagung: Deutsch und Englisch.

 

 

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